Grundstein des Sprengstoffwerkes bereits 1934 gelegt
Die Anfänge des Sprengstoffwerkes gehen auf das Jahr 1934 zurück, als Vertreter der DAG im Oberharz Ausschau nach einem geeigneten Gelände für eine „Trinitritoluol-Fabrik“ hielten. 1935 und 1936 erwarb die zu hundert Prozent im Staatsbesitz befindliche Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie GmbH (auch Montan genannt) von der Preußischen Staatsforstverwaltung eine ca. 120 ha große Waldfläche am Ortsausgang von Clausthal-Zellerfeld in Richtung Altenau, östlich der heutigen Kreisstraße K38. Die Baumaßnahmen begannen 1935, die schnell voran-schritten. Bereits Ende 1936 waren die Bauarbeiten Sprengstoffabrik „Tanne“ fast vollständig abgeschlossen, ohne dass die Fabrik zunächst in Betrieb ging. Erst 1938 ließ das Reich das „Schlafwerk“ reaktivieren und den Gebäudebestand erheblich erweitern.
Standortwahl nicht nach ökonomischen Grundsätzen
Die Standortwahl dieses heereseigenen Betriebes erfolgte nicht nach Gesichtspunkten ökonomischer Sinnhaftigkeit, sondern aus militärischen Gründen in möglichst abgelegenen Gegenden, fernab der großen Industriezentren und Verkehrsknotenpunkte. Unter diesem Blickwinkel boten die südniedersächsischen Städte und Kommunen, insbesondere die des Harzes, günstige Voraussetzungen. Etwa zehn Prozent der vom Reich insgesamt verausgabten „Montan-Mittel“ gingen nach Bad Lauterberg, Göttingen, Langelsheim, Herzberg und Clausthal-Zellerfeld. Allein der Bau des Sprengstoffwerkes „Tanne“ in Clausthal-Zellerfeld verschlang bis März 1936 knapp 12,4 Millionen RM. Wie bedeutsam diese Staatsbetriebe für die Region waren, erschließt sich daraus, dass das Metallwerk Odertal und die beiden DAG-Werke in Clausthal-Zellerfeld und Herzberg 1943 zu den 20 größten Betrieben des Rüstungskommandos Hannover zählten und zusammen über 8.000 Arbeitskräfte beschäftigten.
Produktionsaufnahme Werk „Tanne“ Anfang Januar 1939
Anfang Januar 1939 übernahm die Verwertchemie, eine allein zu Tarnungszwecken gegründete Tochtergesellschaft der DAG, das Werksgelände. Sie nahm die Produktion von TNT im Werk „Tanne“ im April 1939 unter dem von der Wehrmacht vergebenen Fertigungskennzeichen „clt“ auf. Die sogenannte „Reichsbetriebsnummer“, unter der das Werk im NS-Verteilerkreis geführt wurde, lautete 0/0476/0008. In 214 zumeist in Skelettbauweise errichteten Einzelgebäuden stellte die Verwertchemie von nuWelche Bedeutung die Wehrmacht dem Betrieb beimaß, zeigt sich schon allein daran, dass sie auf dem Gelände eine eigene Heeresabnahmestelle betrieb. an Sprengstoff her, betrieb aber zugleich auch eine Füllstelle für teilweise andernorts produzierten Sprengstoff.
Im Geschäftsjahr 1939/1940 verließen insgesamt 6.128 t TNT das Clausthaler Werk. Im Folgejahr verdoppelte sich der Ausstoß. 1943/44 gelang es der Verwertchemie, die Jahres-Produktion auf 27.910 t zu steigern. Der Umgang mit dem Sprengstoff war mit erheblichen Risiken verbunden. So kam es immer wieder zu schweren Unfällen. Allein in dem Zeitraum von 1941 und Dezember 1942 sind insgesamt neun Explosionen in der Presserei dokumentiert. Das größte Unglück mit 61 Toten ereignete sich Anfang Juni 1940 mit der Explosion der Trinitrierung (Gebäude 307). Weitere 38 Arbeiter wurden dabei schwer und 126 leicht verletzt. Neben der Zerstörung von Gebäuden führte die Explosion auch zur Beschädigung der Abwasser-Kanalisation mit der Folge der Verseuchung der beiden angrenzenden Teiche, dem Mittleren und Unteren Pfauenteich. Ein Luftangriff im Oktober 1944 legte die Produktion von Sprengstoffen weitestgehend lahm.
Bis zu 2.500 Personen mit der Herstellung von TNT befasst
Mitte Februar 1942 zählte das Werk 2.665 Mitarbeiter. Dieser Bestand blieb bis Kriegsende nahezu konstant (2.543 am 30.06.1944, 2.513 am 30.09.1944 und 2.525 im April 1945). Mit dem fortschreitenden Wegfall deutscher Arbeitskräfte durch die Einberufung an die Front ersetzten vermehrt ausländische Arbeitskräfte und Zwangsarbeiter die Belegschaft. Teils standen bis zu 1.500 Fremd- und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene im Dienst des Clausthaler Sprengstoffwerkes. In unmittelbarer Nähe des Werkes, nämlich am Hausherzberger Teich und der Hausherzberger Straße, richtete die DAG zwei „Ostarbeiterlager“ für Frauen ein. Ein weiteres Lager für russische und belgische Frauen befand sich an der Bauhmhofstraße auf dem Gelände des heutigen Glashandelsbetriebes.
Das ehemalige Schützenhaus beherbergte jugoslawische Zwangsarbeiterinnen. Im ehemaligen evangelischen Gemeindehaus lebten weitere russische Zwangsarbeiterinnen. Im Bürgergarten fanden Fremdarbeiter/innen Nationalität Unterkunft. Am Ostbahnhof bestand ein Lager für italienische Militärinternierte, sogenannte „Badoglios“. Zudem existierte ein Kriegsgefangenenlager Stalags XI b Fallingbostel (Arbeitskommando 1354) am Bergfestplatz, zwischen dem Abzweig nach St. Andreasberg und Altenau gelegen. Am 12.04.1942 besichtigte der französische Vertrauensmannes des Stalags XI b Fallingbostel dieses Lager. In seinem Bericht hält er auszugsweise über die Bedingungen im Lager fest:
„Clausthal-Zellerfeld, 66 Gefangene, davon sechs Belgier. Diese arbeiten in einem Sägewerk, in einer Bombenfabrik (Erdarbeiten auf dem Gelände der DAG, Werk „Tanne“) und bei Privatleuten. Vertrauensmann und Lagergeistlicher André Treillier (unleserlich), Gefangenennummer 102.232. Ein gutes Lager. Nur zwei Gespannführer des Sägewerks klagen, dass sie 14 Stunden am Tag arbeiten müssen, selbst am Samstag und Sonntag. Die Kameraden beklagen sich ebenfalls über ihren Lagerältesten, der viel zu jung ist, um ihnen Anweisungen zu geben.“
Abwässer aus der Sprengstoff-Produktion in Schluckbrunnen versenkt
Bei der Sprengstoff-Produktion fielen große Mengen an Abwasser an. Die Ableitung stellte die DAG schon während des Betriebes vor große Schwierigkeiten. Anfängliche Versuche, das Abwasser über Schluckbrunnen auf dem Werksgelände bzw. in der näheren Umgebung zu verpressen, schlugen wegen des dichten Untergrundes aber fehl. Daher ließ die DAG zunächst eine knapp zehn Kilometer lange Abwasserleitung bis nach Osterode bauen. Das Einleiten der Abwässer in die Vorflut am Harzsüdrand blieb für die Einheimischen aber nicht unentdeckt, was sich durch eine Rotfärbung des Oberflächenwassers bis in die Leine hinein zeigte. Auch beklagten sich die Wasserwerke Northeim und Hannover über die aggressiven Abwässer. Als 1941 noch ein Fischsterben in der Söse und Rhume hinzukam, musste eine Alternative gefunden werden. Ab Anfang 1942 verpresste das Werk „Tanne“ einen Großteil der Abwässer in drei neu geschaffene Schluckbrunnen bei Petershütte (OT Osterode). So wurden bis 1945 vermutlich bis zu 540.000 m³ Abwässer aus der Sprengstoff-Produktion versenkt. Dies mit erheblichen Folgen für Mensch und Natur, bis heute.
Sanierungsmaßnahmen der Rüstungsaltlast „Tanne“
Von 1977 bis 1980 führten der Kampfmittelbeseitigungsdienst und die Firma Tauber auf dem Gelände des ehemaligen DAG-Werkes „Tanne“ in Clausthal umfangreiche Räummaßnahmen durch. Zusammen entsorgten sie u. a. etwa 270 t Nitroderivate. Bei weiteren Räumungen 1988 wurden nochmals neun Tonnen TNT aus dem Kanalsystem entfernt. Seitdem schlossen sich weitere Sanierungsmaßnahmen an. 1995 errichtete die Industrie Verwaltungsgesellschaft (IVG), als Rechtsnachfolgerin der Montan, im Bereich der Neutralisationsbecken am Mittleren Pfauenteich ein Speicherbecken mit einem Fassungsvermögen von 500 m³ mit einer Sickerwasserreinigungsanlage mit Aktivkohlereinigung, um so die Oberflächenwässer und Drainagewässer zu reinigen. Doch war das Becken völlig unterdimensioniert. 2011 erfuhr es eine Erweiterung um ein 15.000 m³ fassendes Pufferbecken. Im Mai 2019 legte die IVG ein langfristiges Sanierungskonzept vor, das eine weitgehende Erfassung und Reinigung aller relevant belasteten Sickerwässer auf dem Werksgelände und den Abbruch der Bausubstanz vorsieht. Das komplette Sanierungskonzept ist online abrufbar.
Quelle: Redaktion, Webseite Kreis Osterode
Bilder: Jürgen Müller, Osterode; Frank Baranowski, Siegen