Rüstungsindustrie in Blankenburg während der NS-Zeit

Ein vergessenes Kapitel der Blankenburger Stadtgeschichte

Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion in Blankenburg im Harz

Während des Zweiten weltkriegs waren in Blankenburg im Harz eine Vielzahl von Rüstungsbetrieben tätig, die allesamt Zwangsarbeiter beschäftigten und sich bei deren Lagerunterbringung gegenseitig aushalfen. Schon seit 1923 besaß die Bergbau Aktiengesellschaft Lothringen mit Sitz in Bochum in dem Vorharzstädtchen eine Gießerei und – gegenüberliegend – eine bereits seit Anfang des Jahrhunderts stillliegende Eisenerzgrube. Im Januar 1938 erwarben die Krupp AG Essen und die Hoesch-Köln-Neuessen AG Dortmund im Rahmen eines größeren Deals mit der Bergbau AG Lothringen diese Blankenburger Grube „Braunesumpf“. Das neue Erwerberkonsortium machte zunächst ebenfalls keine Anstalten, den Eisenerzabbau wieder aufzunehmen oder die Grube anderweitig zu nutzen. Zu vermuten ist, dass Krupp und Hoesch darauf spekulierten, zu einem späteren Zeitpunkt auch die benachbarte Gießerei von der Bergbau AG Lothringen zu erwerben. Deren Abteilung Blankenburg war bis 1938 ausschließlich für den zivilen Bedarf tätig. Sie stellte vorwiegend Heizkörper und Kessel her.

Im Dezember 1938 fanden mit dem Blankenburger Unternehmen im Berliner Heereswaffenamt erstmals Gespräche über eine mögliche „Sonderfabrikation“ statt. 1939 ging daraufhin bei der Blankenburger Gießerei des Bochumer Konzerns der erste Großauftrag über die Herstellung von Werfergranaten ein. Die im gleichen Jahr erlassene Verordnung über die Kontingentierung von Roheisen führte dazu, dass für die Erzeugung der bisherigen zivilen Produkte monatlich statt 1.754 t nur noch 526 t Eisen zur Verfügung standen. Um den Betrieb weiter aufrecht zu erhalten, bemühte sich das Unternehmen um neue „Produktlinien“, sprich weitere Rüstungsaufträge.

Erste Rüstungsaufträge treffen in Blankenburg ein

Am 26. September 1939 entschied die Konzernleitung in einer Krisensitzung in Bochum, Blankenburg müsse unverzüglich Verhandlungen mit den zuständigen Wehrmachtstellen aufnehmen. Gleichzeitig kündigte die Hauptverwaltung an, ihrerseits bei der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken AG um Rüstungsaufträge nachzusuchen. Sollte die Neuausrichtung Investitionen erfordern, sicherte Bochum die Mittel zu, vorausgesetzt, „dass das Anlaufen der Produktion in verhältnismäßig kurzer Zeit abzusehen ist“.

In der Folge kam es zu Militäraufträgen, und zwar derart ausufernd, dass die Werksleitung sich veranlasst sah, konzernweit Schwerpunkte zu setzen. Im Februar 1943 entschied sie, sich auf die Erzeugung von Motoren- und Zylinderteilen im Schleuderguss für das Volkswagenwerk, die Herstellung von 10,5-cm-Granaten sowie 8-cm-Wurfgranaten und die Steigerung der Produktion von Panzerteilen zu beschränken; erst danach wolle sie über weitere Produkte nachdenken. Das Blankenburger Werk stellte bis Kriegsende Sprengbomben SD 1, 10,5-cm-Sprengranaten 43, 8-cm-Werfergranaten, Bremsbeläge und Stützrollen her, war damit aber nicht völlig ausgelastet; freie Kapazitäten wollten genutzt werden.

Krupp Essen verlagert Produktion nach Blankenburg

Im Frühjahr 1943 war Krupp Essen auf der Suche nach einem geeigneten Standort, um „eine infolge Bombenschaden in Essen stillgelegte Fabrikation von Schleudergussbüchsen für Motoren in hochwertigem Grauguss und legiertem Guss wenigstens teilweise“ an einem sicheren Ort fortzusetzen. Der Blick fiel bald auf die Blankenburger Gießerei, neben der man bereits die Eisenerzgrube „Braunesumpf“ besaß. Am 9. und 10. Juni 1943 fand eine eingehende Besichtigung der Werksanlagen statt, bei der Krupp zu dem Ergebnis kam, dass der Raum der stillgelegten Abflussröhrenfabrikation zur Unterbringung ausreiche und geeignet sei. Am 22. Juni 1943 verständigten sich die Parteien auf die wesentlichen Inhalte eines Pachtverhältnisses.

Krupp erhielt auf dem Blankenburger Werksgelände der Bergbau AG Lothringen eine Fläche von 3.500 qm für seine in eigener Regie geführte Betriebsabteilung. Der Pachtvertrag selbst gelangte vermutlich erst im September 1943 zur Unterzeichnung, aber noch im Juni 1943 trafen die ersten Maschinen und Einrichtungen, die in Essen nach dem Luftangriff auf das Krupp-Werk im Freien standen, in Blankenburg ein. Allerdings machte Krupp zu dem Zeitpunkt noch keine „Anstalten zur Aufstellung der Maschinen“, wie sich aus dem Protokoll einer Direktionsbesprechung der Bergbau AG Lothringen vom 25. Oktober 1943 ergibt. Die räumliche Enge führte bald zu Spannungen, zumal Krupp weitere, seinem Verlagerungsbetrieb nicht zustehende Flächen einzubeziehen versuchte. Trotzdem räumte die Bergbau AG Lothringen im Oktober 1943 einem weiteren Krupp-Betrieb, der Niederlassung Magdeburg, die Option ein, im Falle von Zerstörungen durch Bombenangriffe Teile des Blankenburger Werkes mit zu benutzen.

Kosmos an unterschiedlichsten Lagern

Sowohl in der Rüstungsproduktion bei Krupp und der Gießerei der Bergbau AG Lothringen wie auch auf der im Frühjahr 1944 eingerichteten Baustelle des Verlagerungsprojektes „Porphyr“ waren eine Vielzahl zwangsrekrutierter ausländischer Arbeitskräfte, Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge beschäftigt. So war Ende 1944 ein Konglomerat der unterschiedlichsten Lager über das gesamte Stadtgebiet von Blankenburg verteilt. Unterlagen des Werkarchivs der Bergbau AG Lothringen, die allerdings nur teilweise einsehbar sind, belegen immerhin, dass die Abteilung Blankenburg schon seit 1941, wenn nicht noch früher, ausländische Zwangsarbeiter beschäftigte. Anfang Juni 1941 sicherte das Rüstungskommando dem Werk zu, ihm im Tausch für einen Gießerei-Vorarbeiter und 20 Italiener 60 polnische Fremdarbeiter zuzuweisen. Im November 1941 erörterte die Firmenleitung erstmals, russische Kriegsgefangene einzusetzen.

Das dürfte bald darauf geschehen sein, denn 1942 ist auf dem Firmengelände ein Lager verzeichnet, bestehend aus zwei Wohnbaracken, die mit 112 russischen Kriegsgefangenen belegt waren. Es dürfte bis Kriegsende existiert haben. In einem weiteren Firmenlager in der Weststraße brachte die Bergbau AG Lothringen vorwiegend Ostarbeiter unter. Es lag nur wenige hundert Meter vom Werkgelände entfernt und verfügte über eine Krankenbaracke. Anfang März 1943 gab es Pläne zur Erweiterung dieses Lagers um einen weiteren Aufenthaltsraum für ausländische Arbeitskräfte. Allerdings verweigerte der Baubevollmächtigte der Rüstungsinspektion XI seine Zustimmung; er sah keine zwingende Notwendigkeit für die Maßnahme.

Am 12. Mai 1943 beantwortete er ein Schreiben der Bergbau AG Lothringen: „Die örtliche Überprüfung hat ergeben, dass eine unbedingte Notwendigkeit für die Errichtung des Unterkunftshauses nicht besteht. Meines Erachtens können die im Werk beschäftigten Ostarbeiter während des Frühstücks, das auch die deutschen Arbeiter im Werk einnehmen, jederzeit mühelos bewacht werden“.

Das Bodewerk verlagert Teil seiner Produktion

Mit der Verlagerung eines weiteren Krupp-Betriebs, des kaum bekannten, geschickt als Bodewerk getarnten Rüstungslieferanten, orderte der Konzern weitere polnische, russische, belgische, holländische und italienische Zwangsarbeiter aus Essen, Mühlheim und Bochum nach Blankenburg. Einer von ihnen war Nikolai Baranowski aus Bialistok (Werks-Nr. 090201), der seit dem 24. November 1942 für Krupp Essen Zwangsarbeit leistete und dort im Arbeiterheim Crieperstraße (Sportplatz) untergebracht war. Magazinscheine der Blankenburger Kleidungsausgabe belegen, dass er spätestens seit März 1944 im dorthin ausgelagerten Betriebsteil eingesetzt war.

Am 20. Januar 1944 zeigte Krupp Blankenburg dem Landrat an, dass die Inbetriebnahme der Produktion (Teile für Panzer, Flugzeuge und U-Boote) in wenigen Wochen bevorstehe und die Belegschaft allmählich auf 300 Personen, etwa 100 Deutsche und 200 Ausländer, ansteigen werde. Die Ostarbeiter kampierten im Saal des Helsunger Kruges; die Franzosen sollten laut Krupp in Gemeinschaftsunterkünften unterkommen. Im Januar 1944 schlug die Firma dem Landrat vor, den ‚Pfeiffenkrug‘ und die Wirtschaft Weidemann zu Unterbringungszwecken zu übernehmen.

Verdrängung durch andere Verlagerungsprojekte

Mit Beginn der Ausbrucharbeiten im nahen Wilhelm-Burchardt-Stollen (Deckname „Porphyr“), der als Klosterwerke GmbH getarnt Ausweichstätte der Hamburger Kurbelwellen GmbH werden sollte, stieg die Zahl der Arbeitssklaven im und um den Stadtteil Oesig so stark an, dass es zunehmend Platzprobleme im Umfeld der Gießerei gab.

Die Bergbau AG Lothringen musste ihr an der Weststraße gelegenes Ostarbeiterlager für die bauausführende Klosterwerke GmbH räumen, „weil nur diese Fläche wegen ihrer Lage zum Stollen und zum Anschlussgleis als Lagerplatz für Roh- und Fertigteile in Frage“ kam. Zur Kompensation sicherte der künftige Verlagerungsbetrieb zu, auf seine Kosten bei der Oesig-Siedlung in der Gemeinde Michaelstein – auf einem Gelände hinter den „Lausebergen“ – ein Ausweichlager zu errichten, in dem er außer seinen eigenen Baracken auch die Schleudergießerei wieder aufstellen wollte. Der Bau dieses Lagers dauerte mehrere Monate. Noch im September 1944 hieß es weiterhin, das derzeit mit 600 Personen gefüllte ‚Lager Weststraße‘ sei noch zu verlegen.

Einen Großteil der Unterkunftsbaracken lieferte das Hamburger Bauunternehmen Emil Bentin; noch nach Kriegsende führte es eine rege Korrespondenz mit dem Steueramt der Stadt Blankenburg um Entschädigungsleistungen, offenbar für unbezahlt gebliebene Rechnungen, so am 27. Juni 1949: „Zur Orientierung teile ich Ihnen mit, dass mein Betrieb während des Krieges dienstverpflichtet und beim [. . . ] Stollenbau mit eingesetzt wurde. Zur Durchführung der Arbeiten wurde ich weiterhin verpflichtet, für die Unterkunft der Belegschaft zu sorgen. Als Lagerplatz und Wohngelände für die Belegschaft wurde mir der Kirschberg zugewiesen. Ich habe [. . . ] von Hamburg u. a. zwei Mannschaftsbaracken, eine Bürobaracke und zwei Betonhäuser aus Betonfertigteilen dort hingeschafft und aufgestellt“. Außerdem errichtete Bentin auch mehrere Massivgebäude, und zwar eine große Baracke, ein Magazingebäude, eine Garage und eine Abortanlage.

Weitere NS-Dienststellen verlagern nach Blankenburg

Seit Mitte 1943 ließen sich in Blankenburg noch weitere Betriebe und Dienststellen nieder, so das Institut „Glückauf“. Dahinter verbarg sich das zentrale U-Boot-Konstruktionsbüro des Reiches. Im September 1943 war es in die Nordharzstadt evakuiert worden. Die Mitarbeiter, zeitweise bis zu tausend Ingenieure, Techniker und Modellbauer, arbeiteten an der Entwicklung neuer U-Boote; im März 1945 waren sie noch 450. Beim Einmarsch fielen den amerikanischen Streitkräften vollständige Konstruktionsunterlagen der modernsten deutschen U-Boote in die Hände. Selbst die Organisation Todt setzte sich mit 550 Mitarbeitern ihrer Zentrale nach Blankenburg ab. Und auch die Krankenkasse Wilhelmshaven arbeitete fern vom heimatlichen Kriegshafen mit 28 Mitarbeitern in der Harzstadt.

Die russische Militärregierung stellte die Gießerei der Bergbau AG Lothringen im Oktober 1945 unter Sequester und überführte sie später in Staatseigentum. Der Nachfolgebetrieb, die Harzer Werke, stellten nunmehr als VEB wieder Heizkörper her.

Quelle und Bilder: Frank Baranowski

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