Sprengstoff-Füllstelle der DAG im Herzberger Pfingstanger

Borvisk-Kunstseiden AG

1919 erwarb Benno Borzykowski die Gebäude der brachliegenden Baumwollbleicherei am Herzberger Pfingstanger und richtete dort eine Spinnerei ein. 1927 traten wegen schlechter Wasserqualität Probleme mit dem Färben der Seiden auf, so dass der Betrieb die Produktion zunächst für mehrere Monate einstellte. Ursächlich dafür waren Verunreinigungen der Sieber und des Mühlengrabens durch die im Ablauf gelegene Herzberger Papierfabrik, die zuvor erweitert worden war und große Mengen säurehaltiger Abwässer einleitete. Die Beschwerden von Borzykowski blieben erfolglos. Die Behörden weigerten sich, gegen die Papierfabrik vorzugehen. Mit dem Bau von Klärteichen und eines Brunnens zur Ersatzwasserbeschaffung versuchte Borzykowski, die Produktion wieder aufzunehmen, doch blieben die Maßnahmen erfolglos. Am 27. Februar 1934 ging die Spinnerei in Konkurs. Liquidatoren waren ein Dr. Weber aus Bad Lauterberg und der spätere Leiter des Sprengstoffwerkes der DAG in Herzberg, Fritz Hessinger.

Ansiedlung und Aufbau der DAG Füllstelle in Herzberg

1937 versuchte Borzykowski, das Fabrikgelände für sieben Millionen Reichsmark an einen ausländischen Investor zu veräußern. Allerdings verweigerte ihm das Reichswirtschaftsministerium die dafür erforderliche Genehmigung. Am Juni 1940 erstand die reichseigene Verwertungsgesellschaft für Montansindustrie (Montan) das Werksgelände aus der Konkursmasse und richtete dort in den Folgemonaten mit staatlichen Mitteln in den zu diesen Zwecken umgebauten Gebäuden eine Munitionsfabrik mit Füllstelle ein. Nach Fertigstellung der Anlagen verpachtete die Montan das Werk an die „Fabrik Herzberg der GmbH zur Verwertung chemischer Erzeugnisse“ (Verwertchemie Herzberg), einer 100%igen Tochter der Dynamit AG mit Hauptsitz in Troisdorf. Nach einjähriger Umbauzeit nahm die Verwertchemie Herzberg im Werk „Kiefer“ im Sommer 1941 zunächst die Befüllung von 50-kg-Bomben auf. In der Anfangsphase verarbeitete die Fabrik monatlich etwa 1.500 t Sprengstoff, den das Schwesterwerk in Hessisch-Lichtenau in erstarrter Form in Kesselwaggons per Bahn anlieferte. Ab Herbst 1941 verließen nach einer Produktionsumstellung statt der 50-kg fast ausschließlich noch 250-kg-Bomben, die das Fertigungskennzeichen „hzb“ trugen, die Herzberger Füllstelle. Ende 1943 drosselte die DAG den Ausstoß an Bomben zu Gunsten der Herstellung von Tellerminen, von denen täglich bis zu 6.000 Stück befüllt werden konnten.

Die DAG beschäftigte in ihrer Füllstelle in Herzberg zwischen 650 (1942) und 897 (April 1945) Personen. Ende Dezmebr 1944 zählte das Werk 885 Mitarbeiter, darunter bis zu 500 ausländische Fremdarbeiter. Im umzäunten Lager „Aue“ – im Bereich des heutigen Kastanienplatzes – brachte die DAG etwa 300 bis 350 seiner polnischen Fremdarbeiter/innen unter. Viele von ihnen verschleppte das NS-Regime unter Zwang aus ihrer Heimat ins Deutsche Reich. Sie trugen einfache Kleidung, auf der ein weißes „P“ aufgebracht war. Wachen führten die polnischen Arbeitskräfte vom Lager in das DAG Sprengstoffwerk, wo sie vorwiegend mit der Befüllung von Munition und Tellerminen befasst waren. Das Lager verfügte über eine eigene Küche, die die Insassen mit Lebensmitteln versorgte. Im „Gemeinschaftslager der Fabrik Herzberg“ an der B 243 im Bereich Pfingstanger und der Osteroder Straße kamen neben der deutschen Belegschaft auch 40 bis 45 Franzosen, 50 Studenten der Universität in Leiden (Niederlande) und 25 bis 40 Österreicher unter. Im Gegensatz zu ihren polnischen Leidensgenossen des Lagers „Aue“, durften sie sich ohne Einschränkungen frei bewegen und das Lagergelände verlassen. Zum Gemeinschaftslager der Sprengstofffabrik gehörten sechs Wohnbaracken, ein massives Steingebäude sowie eine Wasch- und Latrinenbaracke.

Explosion in derr DAG Fabrik Herzberg am 4. April 1945

Am 4. April 1945 kam es in der Fabrik zu einem Brand, der die Kesselbühne (Gebäude 404) und die Salpetermühle (Gebäude 406) erfasste und sich danach auf das Gießhaus ausbreitete. Es kam es zu mehreren kleineren Explosionen, die alleine zu keinen größeren Zerstörungen geführt hätten. Allerdimngs schleuderten brennende Sprengstoffklumpen auf das Dach der Versandhalle. Dort lagreten zu diesem Zeitpunkt ca. 8.000 befüllte Tellerminen, die durch die Hitzeeinwirkung detonierten. Dadurch wurden wesentliche Teile der Fabrik zerstört. Von der Kesselbühne, der Salpetermühle, dem Magazin (Gebäude 408) und der Versandhalle (Gebäude 407) blieben nur noch Trümmer übrig. Die Tellerminenvorbereitung (Gebäude 417) und die Stückerei waren etwa zu jeweils fünfzig Prozent zerstört. Die weit verstreut im Werksgelände gelegenen Sprengstoffbunker blieben wie durch ein Wunder unversehrt. Zum Zeitpunkt der Explosion lagerten dort etwa 200 bis 300 t Sprengstoff. Wären diese ebenfalls betroffen gewesen, so hätte der Vorfall noch zu einer weit größeren Katastrophe geführt.

Über die Ursache der Explosion wurde nach dem Krieg intensiv spekuliert. Die Verantwortlichen der Firmenleitung gaben an, dass das Unglück Folge einer Bombardierung durch ein alliiertes Flugzeug gewesen sei. Der Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft Göttingen aus dem Jahr 1948 stützt diese Annahme und führt aus, dass „das Werk aller Wahrscheinlichkeit nach durch Feindeinwirkung zerstört wurde“. Führende Mitarbeiter des Werkes widersprachen dem. Sie sahen die Ursache in den aus Rohstoffmangel eingesetzten, neuartigen Sprengstoffgemischen. Der Oberinspektor der Heeresabnahme Krusesprach in seinen Erinnerungen 1951 davon, dass ein technischer Fehler in der Sprengstoffzubereitung verantwortlich gewesen sei. Dies wird untermauert durch die Aussage von zwei Fremdarbeitern des Werkes, die zum maßgeblichen Zeitpunkt in der Gießerei beschäftigt waren. Sie gaben übereinstimmend zu Protokoll, dass in der Nacht des 4. April 1945 gegen halb Vier die Kessel zum Entleeren fertig waren. Nach dem Öffnen der Ventile habe aus dem Behälter eine Stichflamme hochgeschlagen. In der Folge seien zwei oder drei weitere Explosionen gefolgt. 29 Personen kamen beim Unglück ums Leben; weitere wurden schwer verletzt. Mit der Explosionn war die Einstellung der Produktion verbunden.

Die DAG Fabrik nach Kriegsende

Im September 1945 beschlagnahmte die Oberfinanzdirektion Hannover das Werksgelände zur Bergung von Trümmerbaustoffen. Auf dem bereits zu Zeiten der Rüstungsproduktion genutzten Verbrennungsplatz lagerten die Alliierten weiterhin Abfallstoffe und Restmaterialien, die man dort verbrannte. Im November 1947 eröffnete der behemalige Werksleiter der DAG im damaligen Wäschereigebäude eine neue Firma, und zwar die Glashandelsgesellschaft mbH Fritz Hessinger. Am 22. Juni 1948 ließen die Engländer die noch auf dem Gelände vorhandenen Kessel demontieren und gaben die restlichen noch vorhandenen Gebäude zur Sprengung frei. Im Frühjahr 1960 gruben spielende Kinder größere Mengen an Sprengstoffrückständen aus und zündeten diese an. 1967 erwarb die Stadt Herzberg das DAG-Gelände auf dem Pfingstanger von der Rechtsnachfolgerin der Montan, der Industrie-Verwaltungsgesellschaft (IVG), zum Preis von 275.000 DM. 1980 untersuchte der Kampfmittelbeseitungsdienst des Landes Niedersachsen erstmals die Rüstungsaltlast auf Munitions- und Sprengstoffreste und stellte in der Folge etwa 50 Kilo Munitionsteile und 70 Kilo des Sprengstoffs TNT sicher. Stichprobenartige Analysen von Bodenproben aus dem Bereich des Abfüllgebäudes und dem Abwassergraben ergaben hohe TNT-Belastungen. Der Spitzenwert lag bei 124 Gramm TNT pro Kilogramm Erdboden.

Heutiger Zustand des Geländes im Pfingstanger

Das Gelände zwischen dem Schlossberg und dem kiesigen Bett der Sieber ist zwischenzeitlich großflächig zugewuchert, doch zeichnen sich die Konturen der Anlage noch immer ab. Betonreste säumen das gesamte Gelände. Bis 1995 gab es auf dem Gelände einen Glashandel und noch 2008 genehmigte die Stadt auf dem Grundstück den Betrieb einer Baustahlfirma. 2009 erwab ein Unternehmer ein Teil des Geländes mit der ehemaligen Wäscherei und dem Turbinenhaus der alten Wasserkraftanlage, um so Platz für die Erweiterung seines Betrieb zu schaffen. Er ließ Bodenproben nehmen und begann, das Grundstück zwischen Wäscherei und Zaun teilweise zu räumen. Dabei fielen allein 6,5 Kilo Schrott von Panzerminen und Reste von Infanteriemunition an.

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